Einige Bemerkungen zu Anliegen und sozialer Struktur des KoSemNet-Projekts

von Hans-Gert Gräbe, Leipzig

Beitrag für die "Mitteilungen" ??/2007 des Vereins Begabtenförderung e.V.

Im Frühjahr 2006 hatte ich auf dem 8. Forum Begabungsförderung unseres Vereins das KoSemNet-Projekt vorgestellt und auf der Mitgliederversammlung angeregt darüber nachzudenken, ob und ggf. in welchem Umfang sich unser Verein an diesem Projekt beteiligen kann. Insbesondere wurde dort auch zur Diskussion gestellt, ob es nicht sinnvoll wäre, einzelne Beiträge entsprechender Ausrichtung, die in der "Mathematikinformation" erschienen sind, für dieses Projekt zur Verfügung zu stellen.

Da es sowohl während der Mitgliederversammlung als auch im Nachgang erhebliche Irritationen über Umfang sowie inhaltliche und rechtliche Rahmenbedingungen eines solchen Engagements gab, möchte ich Anliegen, Arbeitsweise und Rahmenbedingungen des KoSemNet-Projekts noch einmal genauer erläutern.

Der Grundansatz des KoSemNet-Projekts greift einerseits die Bedürfnisse von Aktivisten im Bereich der Förderung mathematischer Talente nach geeigneten Aufgaben und Texten und andererseits die Erfahrungen des Open-Source-Szene auf, wie sich digitale Sammlungen derartiger Materialien zweckmäßig organisieren lassen. Letzteres ist keine rein technische Frage, sondern umfasst auch die Frage der sozialen und rechtlichen Ausgestaltung der Beziehungen zwischen den Projektbeteiligten, damit das Gesamtprojekt genügend Fahrt aufnimmt, ohne strukturell die Überlastung einzelner Akteure von vornherein in Kauf zu nehmen.

Die goldene und im Open-Source-Bereich vielfach bewährte Grundthese einer solchen Projektkonstruktion lautet: "Tue das, was du sowieso tust (bzw. tun musst), aber stelle die dabei produzierten Materialien anderen zur Verfügung." Finden andere dieses Angebot attaktiv, d.h. findet sich dabei Brauchbares, so kann das Material in der Regel nicht so verwendet werden, wie es zur Verfügung gestellt wurde, sondern muss für die neuen Zwecke umgearbeitet werden. Dafür muss das Material in einer Form verfügbar sein, welche eine solche Umarbeitung (technisch und rechtlich) möglich und - perspektivisch - auch einfach macht. Damit wandelt sich der Fokus des "Tue das, was du sowieso tust ..." zur Devise "Tue das, was du sowieso tust, auf eine die Nachnutzung fördernde Weise". Letzteres ist mit etwas mehr Arbeit verbunden, die sicher nur derjenige zu leisten bereit ist, der an anderer Stelle eigene Mühen durch die Nachnutzung entsprechender Materialien anderer spart.

Der Skaleneffekt in einem gut funktionierenden Projekt dieser Art - das also auf dem freizügigen Zugang zu den gemeinsamen Materialien aufbaut - ist gewaltig. Die eigene kleine Zusatzmühe erlaubt Zugriff auf die Früchte der gleichermaßen kleinen Zusatzmühen der anderen, die allerdings in ihrer Wirkung mit der Zahl der Beitragenden zu multiplizieren ist. Selbstverständlich muss diese Zahl noch mit einem Wirkungsgrad-Faktor skaliert werden, denn längst nicht alles, was an Materialien ins Projekt eingetragen wird, ist (für den je Einzelnen) gleich nützlich. Während aber dieser Wirkungsgrad erfahrungsgemäß nicht von der Zahl der Beitragenden abhängt und außerdem durch entsprechende Absprachen und Standards positiv beeinflusst werden kann, ist die erste Wirkung proportional zur Anzahl der Beitragenden, so dass ein solches Projekt um so attraktiver wird, je mehr Teilnehmer sich dafür begeistern. Ein sich selbst verstärkender Effekt beginnt zu wirken.

Das KoSemNet-Projekt wendet diese Prinzipien auf die Förderung mathematischer Talente im Schülerbereich an und ging und geht von den Bedürfnisse der Talenteförderer - also zunächst etwa meinen eigenen - aus. Diese sind schnell umrissen: Zum einen bin ich immer wieder auf der Suche nach geeigneten Aufgaben für diesen und jenen Zweck; am besten schon vorklassifiziert und solchen, zu denen ich mir nicht auch noch die Lösung selbst ausdenken muss. Jeder von uns hat wohl seine Quellen und Suchstrategien, nach denen diese Quellen durchforstet werden. Es werden dabei eigene Sammlungen und Sammlungen anderer genutzt sowie Aufgaben aus alten Mathe-Olympiaden und anderen Wettbewerben hervorgeholt. Dieselben Aufgaben werden hundertmal abgetippt - Mühen, die sich im Zeitalter digitaler Technologien eigentlich längst sparen lassen. Und zum anderen suche ich mathematische Miniaturen, Bonbons und schlicht Arbeitsmaterialien, wenn mich mal wieder jemand breitgeschlagen hat, vor und mit interessierten Schülern altersgerecht Mathematik zu treiben.

Diese beiden Bereiche bilden auch den Kern der Aktivitäten des KoSemNet-Projekts. Dass im Mittelpunkt des Projekts zunächst die "Problems" standen, auch der Fokus ein internationaler war und vieles auf den Webseiten (nicht aber in den Materialien!) in Englisch abgefasst ist, hat mit der Entstehungsgeschichte zu tun. Das KoSemNet-Projekt wurde auf einem europäischen Seminar zur Förderung mathematischer Talente in Bratislava im März 2004 aus der Taufe gehoben, an welchem Kollegen aus Tschechien (u.a. Prag, Brno), der Slowakei (Bratislava, Kosice), Ungarn (Miskolc) und Deutschland (Leipzig) beteiligt waren. Ein Bericht darüber ist in der "Mathematikinformation" Heft 41 (Sept. 2004) erschienen.

In den Folgejahren gab es jedoch einen größeren Zuwachs im Bereich der mathematischen Miniaturen, welche in der Zirkel- und Seminararbeit vor allem der LSGM zum Einsatz kamen und kommen. Auf diesem Gebiet ist auch die Schnittmenge mit den Bemühungen unseres Vereins sehr groß, da die in den Mathematikinformationen zusammengetragenen Fachtexte ebenfalls den Charakter mathematischer Miniaturen haben, die für fast identische Zwecke zusammengetragen wurden und werden. Deshalb noch einige weitere Ausführungen zu gerade diesem Teil des Projekts. Wirklich nützlich sind solche Materialien nur, wenn sie für die je speziellen Einsatzzwecke modifiziert und angepasst werden können, was von einfachen Anpassungen bis hin zur Komposition neuer Texte reicht, bei denen alte nur als "Steinbruch" dienen. Dies wirft nicht nur komplexe urheber- und autorenrechtliche Fragen auf, sondern auch die nach einem einheitlichen technischen Format der Texte, welches für den Austausch und die Rekombination mathematischer Texte besonders geeignet ist. Während es auf die letzte Frage mit dem im Wissenschaftsbereich weit verbreiteten Open-Source-Satzsystem LaTeX eine klare, vielfach bewährte und weitgehend alternativlose Antwort gibt, muss die erste Frage genauer bedacht werden. Und es war auch diese Frage, genauer die KoSemNet-Antwort auf diese Frage, welche in den Diskussionen im Verein die größten Irritationen hervorgerufen hat.

Dass es zu LaTeX keine sinnvolle Alternative gibt, auch wenn das System unter Mathematiklehrern kaum bekannt ist, mag hier als These stehenbleiben. Für KoSemNet ist es gesetzt. Die Buchqualität selbst einfacher Texte, welche auch von Nutzern erreicht wird, die längst nicht mit allen Feinheiten und Möglichkeiten von LaTeX vertraut sind, ist unübertroffen. Außerdem gibt es mit MikTeX auch eine leistungsfähige und kostenfrei im Internet verfügbare Windows-Version, die zusammen mit dem ebenfalls kostenfrei im Internet verfügbaren TeXnics-Editor eine vielfach bewährte Arbeitsumgebung bildet.

Die genaue Ausgestaltung der autoren- und urheberrechtlichen Fragen bedarf weiterer Diskussion und eine solche ist auch vorgesehen. Dafür gibt es eine Mailingliste des Projekts (siehe die Projekt-Webseite). Allerdings wurden ein paar Pflöcke von Anfang an eingeschlagen, welche den speziellen Kooperationsbedingungen geschuldet sind, welche sich aus dem Anliegen ergeben, dass die Texte nicht nur frei verfügbar, sondern auch frei modifizier- und rekombinierbar sein sollen. Dies bedeutet, bewusst auf einen Teil der urheberrechtlichen Bestimmungsmöglichkeiten eines "all rights reserved" zu verzichten, indem anderen unwiderruflich Nutzungsrechte an den ins Projekt eingebrachten eigenen Texten in einem Umfang eingeräumt werden, wie er für die Projektzwecke erforderlich ist. Ein solches im klassischen Verlagswesen noch nicht sehr verbreitetes Herangehen basiert auf § 31 (2) UrhG, in welchem die Vergabe einfacher Nutzungsrechte (im Gegensatz zum ausschließlichen Nutzungsrecht, welches Verlage gewöhnlich beanspruchen) geregelt ist. Ein solches Nutzungsrecht des "some rights reserved" ist kreativen Prozessen deutlich angemessener, stellt die freizügige Verfügbarkeit von Texten und Textteilen in den Mittelpunkt und wird international im Rahmen der "Creative Commons" intensiv diskutiert.

Ich möchte hier nicht im Detail auf die Regelungen eingehen, wie sie auf den Webseiten des Projekts genauer ausgeführt sind. Sie unterscheiden zwischen einem sehr freizügigen Binnenverhältnis der "Autorengruppe" - also den Projektmitgliedern, die eigene Beiträge in diesem Bereich eingebracht haben - und einem Außenverhältnis des Projekts zu einer Allgemeinheit (public), welcher die Nutzung der Texte des Projekts auf der Basis der Creative Commons CC-AL Lizenz eingeräumt wird, also die freie (auch kommerzielle) Nutzung der Texte, wenn nur deren Herkunft korrekt attributiert ist. Letzteres ist für den Nachdruck in Zeitschriften (auch der Mathematikinformation) erforderlich, die wir nicht nur nicht ausschließen wollen, sondern begrüßen und aktiv befördern.

Wir verbinden dies - und damit sind wir beim Thema meines Vorschlags, den ich der Mitgliederversammlung unterbreitet hatte - mit dem Ansinnen, auch den umgekehrten Weg zu beschreiten und dem Projekt mathematische Miniaturen zuzuführen, welche in einer der uns freundschaftlich verbundenen Zeitschriften erschienen sind. Eine unabdingbare Voraussetzung für einen solchen Beitrag ist allerdings die Einräumung eines einfachen Nutzungsrechts im beschriebenen Umfang. Dies kann der Autor des Beitrags erklären, wenn er nicht bereits einer dritten Partei ein ausschließliches Nutzungsrecht eingeräumt hat. In letzterem Fall müsste der Autor zunächst das Auslaufen dieses ausschließlichen Nutzungsrechts abwarten oder dessen Rückgabe erreichen, etwa durch die Geltendmachung der Verfallsregel wegen verlegerischer Untätigkeit (wenn die Publikation ausreichend lange vergriffen ist und eine Neuauflage abgelehnt wird). Umgekehrt ist auch klar, dass die Freigabe eines Beitrags für das KoSemNet-Projekt die zukünftige Vergabe eines ausschließlichen Nutzungsrechts an diesem Beitrag an einen Verlag ausschließt, da dieser ja alternativ auch über die KoSemNet-Infrastruktur verfügbar ist. Allerdings stehen Verlage dieser Problematik heute gelegentlich durchaus aufgeschlossen gegenüber.

Speziell für Beiträge in der "Mathematikinformation" hat mir Dr. Meyer als deren Herausgeber schriftlich mitgeteilt, dass er - "wie dies in der Branche üblich ist" - von einem fünfjährigen ausschließlichen Nutzungsrecht an den Beiträgen ausgeht und die Autoren danach über ihre Beiträge wieder in vollem Umfang verfügen können. Die bisherigen Ausführungen machen deutlich, dass es weder zweckmäßig noch rechtlich möglich ist, Beiträge aus früheren Heften oder gar ganze Hefte unter Umgehung der Autoren in das KoSemNet-Projekt aufzunehmen. Interessenten müssten also direkt mit dem Projekt Verbindung aufnehmen - auch deshalb, weil sie mit ihren Beiträgen automatisch zur Autorengruppe gehören, welche die Außen-Rechte am KoSemNet-"Gesamtwerk" nach § 8 (1) UrhG (Mitautoren) "zur gemeinsamen Hand" wahrnimmt.

Das Format der KoSemNet-Beiträge sieht einen speziellen Attribution-Abschnitt vor, in welchem die Geschichte des Aufsatzes (Quellenlage, Änderungsgeschichte etc.) von den Autoren festgehalten werden kann und soll. Dies wäre auch der Ort, an welchem auf die Erstpublikation eines Textes in der "Mathematikinformation" hingewiesen werden kann, was entsprechende Befürchtungen von Dr. Meyer entkräftet. Solche Vermerke stehen allerdings in Verantwortung der jeweiligen Autoren und können nicht Gegenstand einer technischen Redaktion sein.

Nach dieser rechtlichen steht dann die technische Hürde der Umsetzung eines digital im Word- oder PDF-Format vorliegenden Beitrags nach LaTeX, bei der ich - im Rahmen meiner zeitlichen Möglichkeiten - gern behilflich bin. Die KoSemNet-Materialien stehen allen Projektbeteiligten über CVS zur Verfügung und können damit auf dem eigenen Rechner auch offline verwendet werden, wenn die entsprechende Synchronisationssoftware (eben CVS) installiert wurde. Auch dazu findet sich eine Anleitung auf den Webseiten des Projekts.

Literaturverweise und Links:


The KoSemNet Project $Id: mitt-07.html,v 1.1 2007/01/15 20:30:08 graebe Exp $